Carsten's Corner Folge 7: Die große Frage der Prozessmodellierung: Soll vs. Ist

Dr. Carsten Behrens

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Dr. Carsten Behrens

Veröffentlicht am

12.1.2024

Carsten's Corner Folge 7: Die große Frage der Prozessmodellierung: Soll vs. Ist

In Folge 7 von Carsten’s Corner erläutert Carsten die Dynamik zwischen Soll- und Ist-Prozessmodellierung. Erfahre, warum der Trend weg von starren Soll-Prozessen hin zu flexiblen Ist-Modellen geht und wie sich die Ansätze im Laufe der Zeit verändert haben. Erlebe spannende Einblicke in die Herausforderungen und Chancen bei der Wahl zwischen Soll und Ist. Tauche ein in die Zukunft des Prozessmanagements und lerne, wie die richtige Modellierungsstrategie den Weg für erfolgreiche Veränderungen ebnet. Viel Spaß!

Show Notes

0:00 Intro

1:12 Welche Lager gibt es zum Thema Soll- vs. Ist-Prozessmodellierung

3:17 Wann hat ein Soll-Prozessmodell Vorteile?

6:35 Was ist in der Ist-Prozess-Modellmodellierung, warum ist die nicht immer geeignet, was sind die Probleme dabei?

9:55 Kippt die Waage im Trend ein bisschen zu den Ist-Prozessen?

11:05 Können wir Soll-Prozesse abschaffen?

13:00 Hat das Ist-Prozessmodell für die breite Belegschaft mehr Anwendung als das Soll-Prozessmodell?

14:42 Gibt es Fälle, in denen eine Organisation gut beraten ist, ein Ist-Prozessmodell UND ein Soll-Prozessmodell zu erstellen und mit beiden zu arbeiten?

16:05 Wird der Modellierungsaufwand in den nächsten 1 bis 5 Jahren abnehmen?

17:52 Wann sollte man unbedingt zum Ist-Prozess-Modellieren greifen, und wann ist man besser beraten, zum Soll-Prozess zu greifen?

19:58 Wie detailliert soll ein Ist-Prozessmodellierung sein?


WEITERE RESOURCEN ZUM THEMA SOLL VS. IST-PROZESSMODELLIERUNG:

Der Qualitätskompass: Folge 2 - Prozesse adressatengerecht modellieren
Prozessmodellierung: Ist vs. Soll

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Vollständiges Transkript

Vincent Fischer

Herzlich willkommen in Carstens Corner. Wir sprechen heute über Soll-Prozesse und Ist-Prozesse, beziehungsweise wann welche Modellierungsart geeignet ist für eure Zielsetzung. Wir beleuchten dabei so ein bisschen auch, wie sich der Trend entwickelt, also wo die Welt herkam, wo sie hingeht. Ich hoffe, da sind ein paar interessante Erkenntnisse für dich dabei und wünsche dir ganz viel Spaß beim Schauen.

Carsten, du hast dich die letzten Jahre mit vielen Menschen über Prozessmanagement unterhalten. Und wenn es dir ähnlich geht wie mir, kam da immer wieder das Thema hoch, sollte man jetzt eigentlich Soll-Prozesse oder Ist-Prozesse modellieren und kommunizieren? Und bevor wir in das Thema tiefer einsteigen, würde ich dich gerne mal fragen, ob du da verschiedene Lager siehst. Also siehst du typischerweise, ein bisschen vereinfacht, Rollen, die die eine oder das andere Lager vertreten?

Carsten Behrens

Ja, tatsächlich ganz witzig, dass du das ansprichst, denn ich habe letzte Woche noch ein Gespräch mit einem Prozessmanager von der Bank gehabt und da ging es genau darum, Soll- oder Ist-Prozessmodellierung und was für einen Schmerz er damit hat, dass in der Vergangenheit ziemlich viel Soll-Prozessmodellierunggemacht wurde und sie jetzt im Prozessoptimierungsbereich jetzt doch wieder Ist-Prozessmodellierung machen, nochmal separat und sagen den anderen das auch besser nicht so viel, damit sie nicht frustriert sind. Und auf Basis dieser Ist-Prozessmodellierung dann die Optimierung durchführen. Also diese Frage kommt immer wieder und die kommt eigentlich zu Beginn eines jeden Prozessmanagementprojekts, was wir durchführen. Und tatsächlich, ja, es gibt zwei Lager. Denn früher war das eigentlich sehr einfach aufgeteilt. Es gab zwei ganz harte Lager. Und zwar gab es die Prozessmanager, die ganz klar gesagt haben, das einzig Wahre ist die Soll-Prozessmodellierung. Warum sich so viel mit dem Bestehenden rumärgern, wenn man doch schon den Prozess verändern möchte und weiß, wie er eigentlich zukünftig werden soll? Dann sollte ich doch direkt von der Soll-Prozessmodellierung ausgehen und mich nicht so viel mit den Problemen des heutigen Prozesses rumschlagen. Das andere Lager waren die Qualitätsmanager, die immer eine Ist-Prozessmodellierung angestrebt haben oder zumindest etwas sehr artverwandtes, weil sie letztendlich ja auch dagegen auditieren wollten. Sie wollten ja schauen, ob das tatsächlich erfüllt wird, was dort vorgegeben ist. Das sind so die zwei klassischen Lager. Das hat sich aber aus meiner Sicht sehr stark verschoben über die Zeit und zwar aus gutem Grund, aber ich vermute, da kommst du jetzt nach und nach dran auf zu sprechen.

Vincent Fischer

Würden wir später mal drauf reingehen. Ich glaube, eine Annahme ist ganz wichtig explizit zu treffen und zwar, es geht ja meistens nicht nur um die reine Modellierung, sondern man will ja einen Prozess auch irgendwie steuern/managen. Das ist eine Annahme, die wir explizit treffen können. Aber lass uns mal einsteigen in den Soll-Prozess. Wann würdest du denn sagen, hat ein Soll-Prozessmodell Vorteile oder wann würdest du sagen, ist es angemessen und geeignet, einen Soll-Prozess aufzunehmen?

Carsten Behrens

Ja, ich würde vielleicht das andersrum aufziehen und sagen, warum ist das jetzt nicht die alleinige Wahrheit, wenn ich einen Prozess verändern möchte und einen Soll-Prozess anstrebe, ihn dann einfach nur den Soll-Prozess zu beschreiben und dann die Organisation dahin zu führen. Das war sehr stark Trend so in den 90er Jahren, 2000er Jahren hat man sehr viel über Business Process Re-Engineering gearbeitet, dass man also Prozesse völlig neu designt hat und die dann versucht hat, über einen Soll-Prozess, also wie es nachher genau laufen soll, und ein Veränderungsprojekt, was tatsächlich dazu führt, dass wir diesen Soll-Prozess dann erreichen, also damit dann Prozessänderungen einzuführen. Und das Traurige ist, dass es da extrem hohe Scheiterquoten gibt. Je nachdem, welchen Studien man glaubt, liegen die bei 60, 70 oder auch 80 und über 80 Prozent. Wobei dann immer die Frage ist, was ist ein gescheitertes Projekt? Aber wahrscheinlich bei den 80 Prozent dann geht es wahrscheinlich auch schon darum, dass es nicht zeit-, termingerecht und nicht das erwünschte Ergebnis schnell genug passierte. Aber es sind wahnsinnige Scheiterquoten. Da stellt sich natürlich die Frage, warum ist das so? Warum gibt es scheinbar so hohe Risiken dabei? Und aus meiner Sicht sind die größten Risiken, dass der Mensch relativ schwer in der Lage ist, sich abstrakt einen zukünftigen Prozess vorzustellen, den zu modellieren und vor allem auch alle Beteiligten es später tun sollen, da so zu involvieren, dass sie wirklich mitdenken. Die meisten denken erst mit, wenn es wirklich dann geändert wird. Und das führt dazu, dass ein Soll-Prozess immer sehr abstrakt bleibt und auch viele Eventualitäten beziehungsweise viele Details einfach unter den Tisch fallen, die in einem Ist-Prozess, in einem eingeschwungenen Ist-Prozess naturgemäß schon berücksichtigt sind. Das sind aus meiner Sicht so die Hauptgründe. Aber jetzt stellt sich natürlich die Frage, warum macht man das trotzdem gerne oder warum war das so stark vertreten? Und der entscheidende Grund dafür ist, dass man immer sagte, dass so viel auseinandersetzen mit den ganzen Problemen des Ist-Prozesses, wo man ja nicht daran ganz vorbeikommt, wenn man einen Ist-Prozess modelliert, das bremst einen eigentlich nur in dieser Zielstellung, wo wir eigentlich hinwollen. Außerdem ist es eigentlich aus dem Change Management bekannt, dass es sehr schön ist oder sehr wichtig ist für ein Change, damit Leute sich bewegen, ein wünschenswertes Bild der Zukunft aufzumalen. und eher im Sinne von solution-based thinking sozusagen auch zu zeigen, wie wäre es denn gut und richtig, lösungsorientiert zu denken, anstatt die Probleme des heutigen Alltags zu wälzen. Deswegen von der Motivationslage kann man das sehr gut verstehen, warum Soll-Prozessmodellierung erstmal attraktiv wirkt, aber die praktische Umsetzung erzeigte sich als mehr als schwierig.

Vincent Fischer

Ich glaube, eine Frage, die ich mir da auch immer stelle, ist, kann denn die Person überhaupt einen Ist-Prozess aufnehmen? Also gerade wenn das eine Person ist, die vielleicht extern berät oder so, ist es ja viel, viel naheliegender, von der aktuellen Informationslage zum Soll-Prozess zu greifen, um eben die Veränderungsbereitschaft auch zu schaffen. Du hast viele Probleme angesprochen, die es dabei gibt. Jetzt könnten wir einfach die Folge hier beenden und könnten sagen, gut, also ist es der Ist-Prozess. Vielleicht beleuchten wir den auch mal kritisch. Also was ist in der Ist-Prozess-Modellmodellierung, warum ist die nicht immer geeignet, was sind die Probleme dabei?

Carsten Behrens

Genau, also etwas, was man sich auf jeden Fall immer bewusst sein muss, auch eine Ist-Prozessmodellierung ist niemals eine reine Ist-Prozessmodellierung, weil die 100%-Ist-Modellierung wäre sehr facettenreich, weil nämlich häufig unterschiedliche Prozessinvolvierte das unterschiedlich interpretieren, vielleicht auch an unterschiedlichen Standorten das unterschiedlich interpretiert wird oder an unterschiedlichen Teams unterschiedlich interpretiert wird. Das heißt, auch der Ist-Prozess ist natürlich wie jedes Modell eine starke Vereinfachung der Realität und erlebt jeder Prozessmanager bei einem Prozessworkshops auch ein Stück weit ein Soll-Prozess. Das heißt, allein diese Harmonisierungstätigkeit, dass man darüber spricht, dass man sich synchronisiert austauscht, wie machst du es, wie mache ich es, wie wollen wir das jetzt handhaben, ist immer auch eine Form von Soll-Prozess, aber sehr nah an der Ist-Ausgangslage. Ja, was ist da die Herausforderung oder was sind da die Probleme? Das Hauptproblem ist, dass wenn ich den Ist-Prozess modelliert habe, hat sich noch nichts geändert. Also dann habe ich vielleicht ein einheitliches Verständnis geschaffen, aber ich bin einem vielleicht zukünftigen Soll-Prozess nicht näher gekommen. Das heißt, ich muss mir dann immer noch die Gedanken machen, wie komme ich denn jetzt von diesem Ist-Prozess zu einem zukünftig anders gestalteten Prozess. Unsere Empfehlung ist das heutzutage iterativ zu machen, kleinschrittig, agil, wie wir das auch aus den agilen Prinzipien sehr schön kennen, weil wir dann durch kleine Schritte eben Risiken vermeiden können, diese kleinen Schritte sehr gut überblicken können und damit eine sehr hohe Erfolgswahrscheinlichkeit der kleinen Schritte haben und dann auch letztendlich ein Zielbild erreichen können. Dieses kleinschrittige Prozessmanagement ist aber nicht immer möglich gewesen. Das funktioniert im Prinzip erst aus meiner Perspektive seit Enterprise 2.0 oder Social Media Prinzipien oder wie auch immer man es nennen möchte, Web 2.0, wo man eben die Betroffenen von den Prozessen sehr stark in die Prozessgestaltung mit einbinden kann, sodass sie eben Feedback aus dem Alltag geben können und damit eine sehr leichtgewichtige Anpassbarkeit von Prozessen da ist. Wenn jedes Prozessmodell Anpassen einen großen Workshop erfordert, wo ich Leute global zusammentrommel und wir dann drei Stunden konferieren und dann noch jemand im Nachgang zwei Stunden modelliert, ist es so träge, dass etwas Kleinschrittiges nicht funktioniert, weil einfach der Modellierungs- und Kommunikationsaufwand größer ist als der Erfolg, den ich durch die Prozessveränderung habe. Jetzt passiert aber über die Zeitschiene etwas ganz interessantes, nämlich dass das Thema Prozessmodellierung und auch die Kommunikationswege drumherum, diese Partizipation, massiv an Aufwand verloren haben. Das heißt, es wird viel einfacher und schneller, Prozesse zu modellieren, kollaborativ zu modellieren, aus dem Alltag heraus Erfahrungen abzugreifen und die zu integrieren. Das heißt, plötzlich wird das iterative Anpassen von Ist-Modellen viel, viel kostengünstiger. Und dadurch kippt das Modell sozusagen wieder oder steigert die Attraktivität von Ist-Prozessmodellierung, weil man sie sehr kostengünstig iterativ weiterentwickeln kann. Hin zu einem Zielbild, wo man hin möchte.

Vincent Fischer

Das sind eigentlich zwei große Argumente. Das ist die Erfolgswahrscheinlichkeit, dass die Veränderung dann auch so eintritt, wie ich sie iterativ plane. Und es ist, dass es einfacher, also weniger aufwendig ist, das zu tun. Das kippt sozusagen die Waage im Trend ein bisschen zu den Ist-Prozessen.

Carsten Behrens

Vielleicht kurze Anmerkung. Das ist tatsächlich ganz schön zu sehen, dass es tatsächlich auch in der Community sich verschiebt. Das heißt, auch die Prozessmanager halten nicht mehr an einer stumpfen Soll-Prozessmodellierung fest, sondern auch die gehen immer mehr auf den Weg der Ist-Prozessmodellierung, der kleinschrittigen Modellierung, oder Veränderung, manchmal noch mit einem Soll-Prozess im Hinterkopf, aber auch die greifen viel mehr Ist-Prozess-Modelle auf, um die dann gezielt zu verändern. Das sieht man auch an den technologischen Ansätzen, die da entstehen. Auch zum Beispiel in Process Mining, kommen wir vielleicht gleich noch ein bisschen drauf zu sprechen, setzt ja auch erstmal auf dem Ist-Prozess auf und schaut dann da, wo haben wir da Verbesserungspotenzial, wo haben wir da Non-Conformance oder ähnliches. Das heißt, auch die Prozessmanager bewegen sich tatsächlich, die gesamte Community in Richtung Ist-Prozessmodellierung und dann kleinschrittlicher Veränderung mit einer Vision, mit einem Zielbild im Kopf, wo der Prozess denn hin soll.

Vincent Fischer

Ich habe ein anderes Argument, was ich da immer wieder höre, ist, dass sozusagen in den 90ern hat Soll-Prozess noch besser funktioniert, weil ich auch die Zeit hatte, den Prozess dahin zu entwickeln. Also wenn ich drei Jahre gebraucht habe, war das Zielbild immer noch korrekt oder richtig in den Anforderungen und in der Umwelt, in der ich mich als Unternehmen empfinde. Und dass viele Prozessmanager und Qualitätsmanager halt heutzutage sagen, sie könnten nicht das Soll-Prozessmodell für in drei Jahren schaffen. Also sie haben gar nicht mehr die Zeit mehr, diese Entwicklungszeit, auch wenn es diese 20 Prozent Erfolgswahrscheinlichkeit hat, sodass da dieser iterative Ansatz sich an vielen Stellen durchsetzt.

Carsten Behrens

Das stimmt, guter Punkt.

Vincent Fischer

Ist es deiner Meinung nach denn dann heutzutage so, dass wir sagen können, okay Ist-Prozesse streng besser, Soll-Prozesse schaffen wir quasi ab oder gibt es für dich noch Szenarien, wo du sagst, ja da ist ein Soll-Prozess Ansatz quasi berechtigt oder geeignet?

Carsten Behrens

Ich glaube, man muss sich vor Augen machen, dass eine Ist-Prozessmodellierung und eine iterative Weiterentwicklung der Ist-Prozesse nie zu einer disruptiven Veränderung führt. Evolution heißt immer, ich bewege mich irgendwo in meinem in meinem Continuum und komme dann halt zu meinem lokalen Optimum, aber nie zu einem völlig anderen Teich, wo ich als Frosch vielleicht mal reinspringen muss. Das heißt, wenn ich große Restrukturierungsprojekte habe, wenn ich Software einführe, die ganz andere Vorgänge, Ansätze erfordert und so weiter, dann kann es immer noch erforderlich sein, von einer Soll-Prozessmodellierung auszugehen. Die Frage, die dann immer noch offen bleibt, soll ich deswegen jetzt gar keine Ist-Prozessmodellierung mehr machen? Es mag Ausnahmen geben, aber ich glaube, dass eine Ist-Prozessmodellierung trotzdem noch gewaltig hilft, um halt das Delta besser beschreiben zu können und sich auch der ganzen Hürden, die es heutzutage gibt, bewusst zu sein, die man vielleicht zukünftig wieder einmal berücksichtigen muss. Anders ist das, wenn es den Prozess einfach in dieser Form gar nicht mehr gibt. Also dann brauche ich auch keine Ist-Prozessmodellierung mehr machen. Also das heißt, bei krassen Veränderungen, bei disruptiven Veränderungen kann es mal erforderlich und sinnvoll sein, eine reine Soll-Prozessmodellierung zu machen und dann ein Veränderungsprojekt, was eben diesen Prozess einführt. Aber ich behaupte, dass 95 Prozent der Prozessmanagement-Use-Cases besser funktionieren über Ist-Prozessmodellierung und iterative Entwicklung.

Vincent Fischer

Rein aus der anekdotischen persönlichen Evidenz ist es auch so, dass die Ist-Prozessmodelle in der breiten Belegschaft beliebter sind, weil ich vermutlich direkten Mehrwert davon habe. Würdest du das so unterstreichen? Würdest du sagen, dass das Ist-Prozessmodell für die breite Belegschaft auch mehr Anwendung hat als das Soll-Prozessmodell?

Carsten Behrens

Genau, das ist unbedingt der Fall. Das Soll-Prozessmodell ist ja ein Plan, der nur, also vor allem denen dient, die gerade am Planen sind. Das Ist-Prozessmodell kann auch andere Funktionen übernehmen. Also zum Beispiel Was wir sehr gerne machen, ist, dass wir Prozesse anreichern mit alltagsrelevantem Wissen und dadurch bekommt es einen Wissensmanagementcharakter, dieses Prozessmodell. Es gibt also dadurch mehr Interaktion mit dem Prozessmodell und ich profitiere persönlich auch stärker von dem Prozessmodell, was bei dem reinen Plan nicht der Fall ist, es sei denn, er wird halt in x Jahren umgesetzt, dann betrifft es mich, aber ich habe, solange es nur ein Plan ist, profitiere ich davon auch nicht. Und das ist eben anders bei Ist-Prozess-Modellen. Ist-Prozess-Modelle haben dann nebenbei noch den Effekt, dass sie natürlich auch dazu dienen können, den Prozess abzusichern, wie wir es aus dem Qualitätsmanagement kennen, dass ich ihn auditieren kann und schauen kann, wie er läuft und so weiter. Das kann ich mit dem Soll-Prozess, solange nur ein Plan ist, eben noch nicht tun. Und ich glaube, der riesige Vorteil von Ist-Prozessen ist eben diese Identifikation damit, weil ich ihn ja jetzt schon erlebe, weil ich ihn jetzt permanent durchführe. Und deswegen auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Mitarbeiter darüber nachdenkt, das reflektiert und Verbesserungsvorschläge macht, die sind halt an dem Ist-Prozessmodell deutlich höher als an dem Soll-Prozess, der für ihn auch erstmal abstrakt ist, weil das erstmal nur sein zukünftiges Ich betrifft.

Vincent Fischer

Fand ich eine gute Anmerkung, nur für die Planer in dem Fall relevant. Jetzt haben wir ganz viel so das Entweder-Oder besprochen, also wann ist das besser, wann ist das besser. Wie sieht es denn mit dem Und aus? Also gibt es für dich auch Fälle, ja vielleicht auch Randfälle, wo es eine Organisation gut beraten ist, sich ein Ist-Prozessmodell zu machen und ein Soll-Prozessmodell zu machen und mit beidem zu arbeiten?

Carsten Behrens

Ich würde sagen, wie eben schon ein bisschen angedeutet, nur in Sonderfällen. Also wirklich nur in dem Business Process Re-Engineering-Fall, wo ich disruptiv etwas völlig anderes an Prozess designe. Das heißt, wenn es große Sprünge sind, die erforderlich sind und trotzdem der Ist-Prozess noch Relevanz hat. Also nur in dem Fall macht es Sinn, Soll-Prozess und Ist-Prozess zu modellieren. Wobei aus meiner Sicht es immer extrem wichtig ist, wir müssen wirklich darauf achten im Prozessmanagement, dass wir nicht zu viel Zeit in diese Modelliererei verbraten. Denn das Prozessmodellieren ist in der Vergangenheit viel zu viel Aufwand gewesen aus meiner Sicht und wir müssen da hinkommen und das zeigen ja auch alle Tools und da arbeiten wir auch massiv dran, dass das Modellieren, das Beschreiben so einfach wie nur irgendwie möglich gehalten wird, damit erstens wenig Zeit aufgewendet wird, um es zu tun, aber je einfacher man es macht, desto mehr Leute sind auch involvierbar, desto besser ist das Thema demokratisierbar, in die Breite tragbar, desto mehr Leute können mitdenken und mitgestalten. Das heißt, die Einfachheit von Modellierungen spielt eine wahnsinnig große Rolle. Und deswegen zucke ich so ein bisschen zusammen bei Soll- und Ist-Prozessmodellierung, weil bis heute ist es so, dass Modellieren einfach noch einen gewissen Aufwand bedeutet, der rapide sinkt, aber es ist eben noch ein relevanter Aufwand.

Vincent Fischer

Bist du optimistisch, dass der in, ich sag mal, Mittelfrist, also 1 bis 5 Jahren, weiter sinkt?

Carsten Behrens

Auf jeden Fall, unbedingt. Wir haben es ja schon mit den Social-Media-Prinzipien erlebt, wie der Aufwand für Prozessmodellierung und vor allem Prozessänderung massiv gefallen ist. Und jetzt ist es so, dass generative KI nochmal ganz gewaltig den Modellierungsaufwand reduziert, dadurch, dass ich mir Prozessvorschläge generieren lassen kann, dadurch, dass ich eben sagen kann, ich habe drei Schritte modelliert, was ist der wahrscheinlich nächste vierte Schritt. Dadurch kann Prozessmodellierungsaufwand nochmal massiv fallen. Und auf der anderen Seite gibt es noch die andere Disziplin, die sich sozusagen von der anderen Seite dem nähert, das ist das Thema Process Mining. was auch im Moment noch relativ viel Aufwand ist, zumindest wenn man jetzt keinen Order-to-Cache-SAP-Standard-Prozess vor Augen hat. Aber auch da fallen die Aufwände massiv, wie ich Process Mining sehr einfach anbinden kann, dass das Datenmapping besser hinkriegen kann und so schneller auch zu Ist-Prozessen und zwar echten Ist-Prozessen auf Basis der digitalen Spuren komme. Da bewegt sich wahnsinnig viel. Ich habe immer gesagt, je Generation viertelt sich der Aufwand des Prozessmanagements oder der Prozessmodellierung. Und die erste Generation war papierbasiert. Dann von Papier auf Datei basiert war eine Viertelung. Die Generation von Datei basiert zu Social Media Prinzipien, also Web 2.0 Technologien mit kollaborativer Gestaltung war eine Viertelung. des Modellierungs- und Änderungsaufwandes von Modellen. Und das wird nochmal eine Viertelung, denke ich, gehe ich fest von aus, im Rahmen von generativer KI, beziehungsweise dann auch auf der anderen Seite von der Process Mining Seite auch, erwarte ich auch so einen Effekt.

Vincent Fischer

Ja, das stimmt optimistisch. Ich glaube, wir haben das Thema aus vielen Facetten jetzt beleuchtet. Vielleicht, wenn wir einfach nochmal so einen Schlussstrich drunter ziehen. Wann würdest du sagen, sollte man unbedingt zum Ist-Prozess-Modellieren greifen, beziehungsweise wann würdest du sagen, ist man besser beraten, zum Soll-Prozess zu greifen?

Carsten Behrens

Ich glaube, man muss sich ein bisschen anschauen, welche Rahmenbedingungen man hat. Welche Zielstellung, also ist etwas disruptiv oder nicht disruptiv. Wenn disruptiv, dann Soll-Prozessmodellierung. Wenn es auch iterativ möglich ist und das kritisch hinterfragen, ob das nicht wirklich möglich ist, dann unbedingt auf Basis der Ist-Prozessmodellierung, einer dynamischen Ist-Prozessmodellierung. Allerdings muss man auch schauen, welche Werkzeuge und Methoden werden im Hause verwendet. Je statischer die Methoden, die verwendet werden, oder je statischer, je aufwendiger, komplexer die Methoden und die Tools, die verwendet werden, desto eher sollte man in eine Soll-Prozessmodellierung gehen, weil mit schwergewichtigen Tools eine leichtgewichtig-iterative Entwicklung von Ist-Prozessen nicht funktioniert. Also das sollte man nicht probieren. Wenn ich an die klassischen Business Process Management Werkzeuge denke, der 90er, 2000er Jahre, so etwas lässt sich nicht kleinschrittig, iterativ Prozesse kostengünstig wirtschaftlich weiterentwickeln.

Vincent Fischer

Damit kann ich die Prozessbeteiligten nicht belästigen.

Carsten Behrens

Ne, genau. Das funktioniert nicht. Das heißt, ich brauche immer Modellierer dann zur Hand, die das dann begleiten, was der Fachbereich tut. Und der Modellierungsaufwand ist sehr, sehr hoch. Der Kommunikationsaufwand dahinter ist sehr hoch. Also das macht da keinen Sinn. Das heißt, man muss schon das passende Set haben. Das passende Setting.

Vincent Fischer

Also fasse ich für mich zusammen oder nehme ich für mich mit, wenn ich leichtgewichtig und menschenzentriert unterwegs sein will, wenn ich iterativ weiterentwickeln will, wenn ich alle mitdenken lassen will, dann ist eine IS-Prozessmodellierung, die es mir ermöglicht, Wissensstückchen, Wissenshäppchen am Prozess zu dokumentieren, sodass es einen Alltagsnutzen hat, ist wahrscheinlich die richtige Wahl für mich.

Carsten Behrens

So würde ich sagen. Ja, ganz genau.

Vincent Fischer

Eine Frage, die beim Ist-Prozess-Modellieren mir immer wieder gestellt wird, ist, wie detailliert soll ich das machen? Weil wenn ich probiere, die Realität wirklich eins zu eins nachzustellen, dann wird es anstrengend, dann wird es aufwendig und dann gibt es sehr viele Fallunterscheidungen. Und diese Frage will man ja dann auch allen Leuten, die mitmachen, möglichst viele beantworten. Wie stehst du dazu?

Carsten Behrens

Genau. Also bei der klassischen Ist-Prozessmodellierung hat man es eigentlich so gemacht, dass man einen Detaillierungsgrad vorgegeben hat. Also das Qualitätsmanagement aus den 90ern würde sozusagen sagen, du brauchst genau vier Ebenen und da musst du in dem Detaillierungsgrad das beschreiben. Das würde ich mittlerweile als falsch bezeichnen mit den heutigen modernen Ansätzen. Also wenn es darum geht, partizipativ Prozesse zu gestalten, ist meine Empfehlung immer, Starte ganz grob, sodass es nur ein grobes Gerüst gibt des Prozesses und steuere den Prozess über seine Eckdaten, über seine Kennzahlen, über seine Ressourcen, die du ihm gönnst, über die Verantwortlichkeiten, über die Methoden, die verwendet werden. Und nur wenn es in diesem Prozess hakt oder wenn es Rückfragen gibt, wenn es Probleme gibt, dann fängst du an, ihn auszudetallieren. Das heißt in der letzten Konsequenz, dass ich sage, starte mit einer ganz groben Beschreibung des Prozesses und detailliere ihn nur bedarfsgerecht aus. Und jetzt die Frage, was ist bedarfsgerecht? Bedarfsgerecht ist es immer nur aus drei Gründen. Der eine Grund ist, es gibt Wiederholfragen, es gibt Probleme, es gibt Diskussionen im Prozess. Dann sollte ich den ausdetaillieren an der Stelle, wo es hakt. Der zweite Grund ist, es lohnt sich, Wissen zu konservieren am Prozess, weil es zukünftig nochmal wertvoll wird, also diesen Wissensmanagement-Charakter des leichtgewichtigen Prozessmanagements. Und der dritte Grund, das ist immer noch für mich meistens ein schwacher Grund, es wird irgendwie extern gefordert, dass es ausdetailliert wird. Aber wenn keiner dieser drei Gründe existiert, dann sollte ich den Prozess ganz grob lassen. Er läuft ja. Also solange mir das Verhältnis von Input zu Output, was ich diesem Prozess an Ressource gönne, gefällt, brauche ich eigentlich an dem Prozess nicht rumschrauben, sondern nur dann, wenn einer dieser drei Fälle existiert. Jetzt ist der große Vorteil, dass bei partizipativen Prozessmanagement oder bei kollaborativen Prozessmanagement sich der richtige Detaillierungsgrad von alleine einstellt. Nämlich, wenn es jetzt zu grob ist und es zu Problemen führt, dann gebe ich den Leuten mit, detailliert es aus, wenn ihr darüber diskutiert, wenn es Probleme gibt. Dann detaillieren sie es so weit aus, und zwar derjenige, der der Adressat des Prozessmodells ist, der es täglich durchführt, wie er es braucht, wie er es in Abstimmung seiner Schnittstellenpartner braucht. Und damit pendelt sich der richtige Detaillierungsgrad ein. Das ist anders, also es hat eher einen regelnden Charakter. Das ist anders bei den bisherigen Ansätzen, wie wir es früher gemacht haben, sowohl im Qualitätsmanagement als auch im Business Process Management. Da hat man eher steuernd agiert. Das heißt, man musste den richtigen Detaillierungsgrad treffen, damit es nachher im Feld funktioniert. Das führte dazu, dass man im Qualitätsministerium häufig gesagt hat, du brauchst drei Ebenen und den und den Detailierungsgrad. Und das führte im Business Process Re-Engineering dazu, dass man da auch einen klaren Detailierungsgrad vorgegeben hat. Aber heutzutage können wir das iterativ sozusagen herausfinden, was der richtige Detailierungsgrad ist, indem wir grob starten, das ist nur bedarfsgerecht ausdetailieren und dem Bedarf definieren, die Prozessprobleme beziehungsweise die Herausforderungen, die man hat.

Vincent Fischer

Ich glaube in der Praxis gibt es so den Sonderfall, dass aus Grund von einer Konfliktscheuheit man probiert ganz grob zu bleiben, dass ich verschiedene Anspruchsgruppen quasi an dem Prozess habe und irgendwie der eine will, dass das Quality-Gate hinten so aussieht und der andere will, dass das anders aussieht und schreiben das lieber nicht auf, um eben diesen Konflikt aus dem Weg zu gehen. Aber letztlich bleibt der Konflikt ja bestehen, auch in dem Moment, glaube ich.

Carsten Behrens

Richtig, genau. Also aus meiner Sicht ist das Ziel des Prozessmanagements ja, so Konflikte gerade eben aufzudecken und dann eben zu lösen, anzugehen. Es gibt häufig auch noch Anmerkungen, warum man Prozesse irgendwie grober belässt. Also was ich zum Beispiel immer wieder höre, ja wir wollen den Prozess nicht so beschreiben, nicht so detailliert vorgeben, denn wir wollen die Kreativität an der Stelle nicht eingrenzen. Finde ich gut, macht auch erstmal Sinn, das ist eine Möglichkeit, wie man Kreativität begegnen kann in der Prozessbeschreibung, dass man es einfach gar nicht beschreibt. Ich glaube der bessere Weg ist zu sagen, wir geben der Beschreibung dieses kreativen Prozesses schon Tipps und Best Practices mit, setzen die aber nicht hart durch. Das heißt, dann ist dieser Teil der Prozessbeschreibung nicht eine harte Vorgabe, sondern tatsächlich eher ein Best Practice, eine Anregung. Und damit kann man auch sehr schön Kreativität offen lassen und auch ein Stück weit unterstützen, sogar explizit, über Anteile im Prozess, die eben kreativ bleiben sollen.

Vincent Fischer

Dann aus einer Diskussion mit einem Prozessverantwortlichen mal das mir gemerkt, als er meinte, ja, ich brauche eine gewisse Sicherheit im Prozess, um experimentieren zu können. Und ich glaube, da kommt ganz schön dieser Empfehlungscharakter, dieses Prozess als Sicherheitsnetz, auf den ich zurückfallen kann, wenn ich nicht mehr weiß und so weiter. Und dann dieses Ist-Prozessmodell als Absprungbrett für kleine Verbesserungen, die ich im Alltag eben durchaus ausprobieren kann, wenn es nicht unbedingt der Jahresabschlussprozess ist oder so, wo ich vielleicht keine Spiränzchen mache.

Carsten Behrens

Ganz genau.

Vincent Fischer

Ja, ich hoffe, es waren ein paar Erkenntnisse für dich dabei aus der Diskussion, die doch rechtfachlich abgebogen ist. Wir werden auch in Zukunft ganz viele Erkenntnisse teilen, die wir in Projekten machen, die wir mit unseren Kunden machen, die wir aufschnappen in der Community und werden die über unsere Kanäle auf LinkedIn, auf YouTube und so weiter publizieren. Das heißt, folge uns gerne auf den Kanälen, melde dich vielleicht für den Newsletter an, wenn du sagst, Prozessmanagement, Qualitätsmanagement, Management-Systeme, darüber will ich up-to-date bleiben.

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